Der Wunder gewahr werden

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Glauben bedeutet nicht wissen und bringt – wie in den Religionen – eine Abhängigkeit von Autoritäten und eine verengte Sichtweise mit sich. Dirk Grosser plädiert für eine Spiritualität der Erfahrung statt einer Religion der Denkverbote.

Unsere Welt ist erfüllt von Wundern: das azurblaue Aufblitzen eines Eisvogels, der dampfende Atem eines Hirsches im ersten Morgenlicht oder das Lachen eines spielenden Kindes, völlig selbstvergessen und versunken in dem, was sich gerade der Wahrnehmung offenbart. Phänomene und Geschehnisse – alles in sich vollkommen und von einer inneren Heiligkeit getragen. Eine Heiligkeit, an der wir Anteil haben können, wenn wir unserer Erfahrung vertrauen. Nichts, was ist, wächst, wird und vergeht, benötigt vorgestellte Götter, die seinem Dasein etwas hinzufügen. Wir können den Eisvogel als Eisvogel und den Hirsch als Hirsch wertschätzen - und nicht etwa, weil wir davon ausgehen müssen, dass irgendein Gott sie aus dem Nichts geschaffen hätte... Wir können die Dinge sehen, wie sie sind, jede Pflanze, jedes Tier, jeden Menschen in ihrem und seinem So-Sein wahrnehmen. Der innere Wert eines Lebewesens hängt nicht von seiner angeblich göttlichen Herkunft ab, sondern von seinem Sein in der Welt, seiner Einzigartigkeit, seiner Fülle, der er durch sein Leben Ausdruck verleiht.

Dies zu erfahren, die Welt wirklich zu sehen und auch in sich selbst dieses Sein wahrzunehmen, ist eine freie Form der Spiritualität, die ganz im Gegensatz zu einer dogmatisch geprägten Sicht, wie sie Religionen vertreten, steht.

Religion: totes Konstrukt

Während Spiritualität uns ein Leben aus der Tiefe ermöglicht, welche das Leben in all seinen Facetten und Aspekten achtet, ist die Religion oft ein totes Konstrukt, welches das Leben in vorgefertigte Begrifflichkeiten einordnen und somit unter Kontrolle halten möchte. Spiritualität ist das eigene, individuelle Herantasten an das Heilige. Religion ist die Schublade, für die alles, was nicht passt, passend gemacht werden soll.

Jörg Starkmuth schrieb den schönen Satz: "Hätte ich keine Namen für das, was ist, wäre ich umgeben von Wundern." Das ist die Offenheit eines spirituellen Geistes, der keine Regeln braucht, wie Erfahrung sein soll und darf. Mit einem solchen Geist brauchen wir auch keine selbsternannten Hüter der „reinen Lehre“, die diese vermeintlichen Regeln eifersüchtig bewachen.

So wird ein Verhältnis zur Welt möglich, was nicht von Herrschaftsgedanken, sondern von echter Teilhabe durchdrungen ist. Es gibt dann kein Dogma und auch niemanden, der ein solches aufstellen könnte. Unser spiritueller Weg ist ein lebenslanges Forschen, ein Staunen über die Vielfalt, die sich im Kosmos offenbart und welche auch in uns wirkt.

Staunen und Stille

Das Staunen lässt unsere Begriffe, unsere Namen für die Phänomene leiser werden und schließlich verschwinden. Die nachfolgende Stille ermöglicht uns ein noch tieferes Schauen, in welchem wir uns selbst als Teil einer Entfaltung des Lebens erfahren. Wir entdecken, dass wir an grundlegenden Qualitäten des Seins teilhaben, dass in uns selbst und in allem, was lebt, der offene Raum des Bewusstseins erkannt werden kann.

Das, was uns alle grundlegend miteinander verbindet – jenseits jeder Theorie, Religion, Philosophie oder Kultur -, ist die schlichte Tatsache, dass wir hier sind. Hier an diesem Ort im Universum. Wir sind gemeinsam auf diesem Planeten, gemeinsam in dieser Welt, diesem Kosmos. Gemeinsam mit allen anderen Wesen auf diesem Planeten rasen wir mit 107.000 km/h um die Sonne. Wir stammen von demselben Ort, unser Ursprung ist dieselbe Singularität, mit der unser Universum begann, unsere Entwicklung ist den gleichen Gesetzen der Evolution unterworfen.

Wir können in der mystischen Schau, im Moment der Stille, erfahren, dass die Natur unser aller Mutter ist – dass es eine unsichtbare Nabelschnur gibt, die uns alle mit dem Urgrund und deshalb auch miteinander verbindet.

In uns ist der Ursprung enthalten, tief eingewebt in unsere Zellen, in unsere Gedanken und unsere Träume. Das Leben, das das Universum durchwirkt, durchwirkt auch uns. Es gibt Momente, in denen dies ganz klar gesehen werden kann. Momente, die uns hineinziehen in die Wirklichkeit, wie sie sich in eben diesem Augenblick vor uns ausbreitet und in denen das wirklich Heilige des Lebens für uns sichtbar wird. Ein Sonnenaufgang nach einer langen Nacht, der erste Atemzug an einem neuen Tag, ein Tier, welches uns plötzlich im Wald gegenüber steht und ebenso überrascht ist wie wir, ein Lachen, das unsere Traurigkeit durchbricht. Der Moment des Staunens, der die Bewertungen unseres Ego auflöst und uns einfach da sein lässt. Ganz, heil, heilig.

Das religiöse Schema und die Illusion der Trennung

Religionen sind an diesen eigenen Erfahrungen verständlicherweise weniger interessiert. Was ohne priesterliche Vermittlung geschieht, kann einer auf Machterhaltung ausgerichteten Institution nur zuwiderlaufen. Überall funktioniert Religion nach dem gleichen Schema: Es wird den Menschen eingeredet, es bestehe eine Trennung zwischen ihnen und dem Göttlichen und gleichzeitig wird sogenannte „Hilfe“ angeboten, diese Trennung zu überwinden. Selbstverständlich nicht ohne ein gewisses Entgelt zu verlangen, welches meist im Abgeben der eigenen Verantwortlichkeit und Macht besteht.

Doch diese Trennung ist eine hausgemachte Illusion. Niemals haben wir unsere Zugehörigkeit verloren. Das, was ist, die Welt der Phänomene, die uns umgibt, lädt uns ein, in ihr all das zu entdecken, wonach wir uns immer schon sehnten. Die Phänomene, die einfach vorhanden sind und ohne unsere Benennung und Einordnung in einen religiösen Kontext auskommen.

So können wir uns selbst im Tanz mit dem Universum entdecken und feststellen, dass Bezeichnungen unserer selbst, wie unsere Nationalität, unser Geschlecht, unser Glauben, unsere politische Orientierung, unsere sexuelle Ausrichtung etc. an Wichtigkeit verlieren. All das ist noch da, alle kleinen Identitäten sind nach wie vor vorhanden, doch unsere wahre Identität öffnet sich in der Weite des Alls und erfährt den Geschmack der Einheit. Unser innerster Kern erwacht und in der Zugehörigkeit zu diesem grenzenlosen Kosmos entdecken wir, dass unsere eigenen Grenzen verschwinden. Die mystische Erfahrung öffnet unseren Geist und zerbricht nach und nach die Grenzen unseres Denkens, befreit unser Herz und lässt uns in reinem Gewahrsein dessen, was ist, ruhen. Plötzlich sind wir von Wundern umgeben!

Diese Erfahrung gehört, obwohl sie universell ist und alles mit allem verbindet, ganz uns. Es ist unser Erleben der Einheit, die in diesem Moment in uns stattfindet. Wenn wir versuchen, diese Erfahrung mitzuteilen, dann können wir das nur mit unseren ganz eigenen Worten. Niemand außer uns kann unsere universelle und doch einzigartige Erfahrung ausdrücken. Keine Religion, keine Philosophie, keine Sekte, keine Ideologie ist uns so nah wie wir selbst und unser Erleben, welches uns im tiefsten Inneren berührt.

Pur, nackt, offen…

Im Mosaik des Lebens ist unsere Erfahrung des Urgrunds ein wichtiger Stein, ohne den das Bild nicht vollständig ist. Wir brauchen nicht fünf Weltreligionen, sondern sieben Milliarden einzigartige Zugänge, um uns dem gesamten Bild des Kosmos anzunähern. Wir brauchen die Freiheit jedes einzelnen Geistes, um die Freiheit zu erkennen, die allem im Kosmos zugrunde liegt.

Die Welt der Phänomene, die Welt der Natur führt uns auf diesem Weg in die Freiheit. Wir müssen keinem Ismus angehören und müssen uns auch keinem zuordnen lassen. Weder dem Buddhismus noch dem Paganismus und auch nicht dem Atheismus. Vielmehr können wir einfach Leben sein, Erfahrung in einer momentan menschlichen Form, pur, nackt, offen, in Verbindung mit der Welt um uns herum. Sehen, wahrnehmen, staunen, der Natur in all ihren Facetten begegnen. Wir können uns bemühen, so viel wie möglich zu erfahren und so wenig wie möglich zu deuten! Je mehr wir deuten und je genauer wir den Inhalt unseres Glaubens definieren (wie Religionen es immer tun), desto enger wird unser Weltbild. Je mehr Menschen vorgeben, von „ihrem Gott“ zu wissen und „seinen Willen“ zu kennen, desto mehr schränken sie ihren Geist ein. Die eigene Fantasie wird dann oftmals als Wort Gottes dargestellt, weil es uns weiterer Erklärungen zu entheben scheint.

Mut zum Nicht-Wissen

Spiritualität ist jedoch auch der Mut zum Nicht-Wissen, welches sich im offenen Staunen erleben lässt und welches den Verführungskünsten von Intoleranz und Dogmatismus mit Leichtigkeit widersteht.

Das Heilige dieses Kosmos ist offen und frei sich zu entwickeln. Dieses Heilige, verstanden als allem innewohnende und alles durchdringende Kraft und nicht als eine als göttlicher Allvater wirkende Entität, ist weit und bietet Platz für unsere eigene Entfaltung, unsere Fragen und unser Leben mit diesen Fragen.

Der „alte Mann auf der Wolke“ und seine Religionen sind eng und stehen jeder freien Entwicklung aufgrund ihrer eigenen Angst vor Kontroll- und Machtverlust skeptisch gegenüber. Dieses System bietet die immer gleichen Antworten, welche nicht zu hinterfragen sind. Stille wird mit Dogma gefüllt, der offene Geist auf die das Dogma erhaltenden Gebote geeicht und begrenzt. Die Weite des Raums wird zu einer wiederholbaren Meinung geschrumpft.

Alan Watts, ein wahrer Freidenker, fasst es so zusammen: „An Gott zu glauben und nach dem Gott, an den du glaubst, auszuschauen heißt, lediglich Bestätigung einer Meinung zu suchen.“

Der menschliche Geist ist aber grenzenlos. Die Stille, die uns in meditativen Momenten erfüllen kann, muss nicht mit dem Lärm vorgefertigter Antworten erstickt werden. Wir selbst haben die Wahl und müssen genau und ehrlich untersuchen, ob wir den Mut haben, ohne letzte Antworten leben zu können. Die Frage ist: Möchten wir die Marionetten einer fremden oder die Helden unserer eigenen Geschichte sein? Nur jenseits aller ausgetretenen Pfade riecht die Erde frisch. Das gilt für unser ganzes Leben und insbesondere für unsere Spiritualität.

Autor:
Dirk Grosser
QUELLE: sein.de