Live aus NY - Occupy Wallstreet

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Das Volksmikrofon von New York

Seit zwei Wochen kampieren Hunderte Demonstranten nahe der Wall Street, aus Protest gegen Arbeitslosigkeit und Finanzkrise. Während die Polizei weiter repressiv reagiert, werden die Medien langsam aufmerksam

Die Generalversammlung tagt in New York. Doch es sind nicht die Vertreter der Vereinten Nationen, die sich heute im Zucotti-Park zwischen Broadway und Ground Zero zur täglichen »General Assembly« versammeln. Die Sonne scheint, und die Stimmung unter den knapp 300 Aktivisten auf dem betonierten Platz ist ausgelassen. Immer wieder treten Redner vor die Menschen. Da ohne eine Genehmigung die Verwendung von Megaphonen oder Lautsprechern in New York nicht zulässig ist, kommt hier das »Volksmikrofon« zum Einsatz. Die Traube der Zuhörer wiederholt jedes Wort des Redners. Aus jedem Beitrag wird damit ein weit über den Platz hinaus zu vernehmender Chor. Gerade ermahnt ein Gewerkschafter der New Yorker Verkehrsbetriebe die Demonstranten, sich nicht von der Polizei provozieren zu lassen. Die anwesenden Beamten wirken nervös. Ein anderer fordert anschließend, Tea-Party-Sympathisanten von den Protesten auszuschließen.



Begonnen haben die Versammlungen am 17. September. Das kanadische konsumkritische Magazin Adbuster hatte zur Besetzung der Wall Street aufgerufen. Die Hacker-Gruppe Anonymous, linke Organisationen und soziale Netzwerke schlossen sich an, Tausende Demonstranten kamen. »Es gab sogar eine Warnung des US-Ministeriums für innere Sicherheit an die Banker der Nation«, schrieb Magazin-Gründer Kalle Lasn in einem Blog vom 27. September.

Einige hundert sind geblieben. Seit fast zwei Wochen kampieren sie auf dem Betonplatz. Von dort werden die täglichen Demonstrationen zur Wall Street organisiert, die nur wenige Blöcke weiter liegt. »Ich bin hier, weil ich seit meinem Studienabschluß 2009 keine Arbeit finde«, sagt Nicki Angelo aus Westchester County, New York, »es gibt einfach keine Jobs.« Von den Protesten habe sie erstmals durch einen Aufruf der linken Organisation moveon.org gehört. Einen Tag nach Beginn der Aktion war sie im Zucotti-Park, und sie will bleiben, »so lange wie nötig«. Jetzt sitzt sie am Infostand am Broadway, sammelt Unterschriften zur Unterstützung der Besetzung. Mit unserem Anliegen vertreten wir die Mehrheit der Bevölkerung, sagt sie. Die »99 Prozent«, wie es auf mehreren der gemalten Plakate zu lesen ist.

»Macht weiter so«, ruft eine ältere Fußgängerin. In den Nachrichten habe sie von mehr als 96 Festnahmen am Wochenende gehört. Für sie braucht die USA einen »amerikanischischen Frühling«. Ihren Namen will die Frau aus Angst nicht in einer Zeitung stehen sehen, »dafür könnte ich meinen Job verlieren«: Sie arbeitet bei der Stadt New York.

Sean Wingate hat keine Angst, seinen Namen zu nennen. Auch er ist gerade am Zucotti-Park vorbeigekommen und betrachtet fasziniert das Mosaik der unterschiedlichen Protestschilder: »Jeder sollte hier draußen sein«, sagt der Student. Das politische System der USA habe nichts mehr mit einer Demokratie zu tun.

Die Reaktionen auf den Protest seien überwiegend positiv, sagt Henry Ferry. Der ehemalige Verlagsmitarbeiter aus Baton Rouge, Louisiana, sitzt mit Krawatte und weißem Hemd auf einem Stuhl. Hinter ihm hängt eine riesige US-Fahne, auf dem Tisch vor ihm steht ein Schild mit der Aufschrift »99 Prozent«. Der Sitzplatz neben ihm ist für die obersten »ein Prozent« reserviert. Er wird den Tag über leer bleiben. Seinen Job im Verlag hat Ferry vor einem Jahr verloren, nun arbeitet er als freier Journalist. Es gehe ihm darum, einen Platz am Verhandlungstisch zu haben. »Wir haben keine Millionen, um Politiker zu kaufen, können uns keine 1000-Dollar-Spendenessen leisten.« Der Dialog über die 50 Millionen US-Amerikaner ohne Krankenversicherung, über die Millionen ohne Arbeit, über hochverschuldete Studenten und über den Truppenabzug aus Afghanistan und Irak müsse endlich beginnen, fordert Ferry.


Nachts bleiben rund 150 bis 200 Demonstranten auf dem kargen Platz. Tagsüber wächst ihre Zahl auf mehr als das Doppelte. Für die Aktivisten ein Erfolg, denn nach der Repression der Proteste vom Wochenende sah es noch nach einem Abflauen der Bewegung aus. Bei einer Demonstration auf dem Weg in den Norden der Stadt wurden mehr als 80 Teilnehmer festgenommen. Unter dem Vorwand der Blockade des Fußgänger- und Autoverkehrs zwängte die Polizei die Demonstranten auf dem Weg zum zentralen Union Square in orangene Netze und setzte laut New York Times wahllos Pfefferspray ein. Selbst am Platz werde ich ständig von den Beamten verwarnt, weil ich Bilder der Demonstranten vom Bürgersteig aus mache. »Weitergehen« heißt es immer wieder, auch wenn der Bürgersteig leer ist.

Die Demonstranten lassen sich jedenfalls nicht provozieren. Und sie haben nach den Übergriffen vom Wochenende sehr viel mediale Aufmerksamkeit erhalten. Das lag auch an ihrer gut funktionierenden Pressearbeit. Auf der Seite occupywallstreet.org werden ununterbrochen Fotos, Videos und aktuelle Berichte gepostet. Über einen Livestream-Link der Mediengruppe »Global Revolution« können Besucher die Geschehnisse in New York in Echtzeit verfolgen. Jeder Schritt der Polizei wird mit Videokameras dokumentiert. Material, ohne das etwa die Geschehnisse vom Wochenende nie eine größere Öffentlichkeit gefunden hätten.



Von Philipp Schläger
http://www.jungewelt.de/2011/10-01/003.php