Es ist Ungleichheit, die Probleme schafft - nicht Armut

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Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass die psychische und körperliche Gesundheit einer entwickelten Gesellschaft nicht mit dem Einkommen zusammenhängt, sondern mit dem Ausmaß an Gleichheit innerhalb der Gesellschaft. Diese Erkenntnis ist ein Paradigmenwechsel in der Art, wie wir Gesellschaft begreifen: Es ist nicht die Armut, sondern die Ungleichheit selbst, welche viele unserer Probleme verursacht.

Seit Jahrzehnten hat der Epidemiologe Richard Wilkinson untersucht, warum manche Gesellschaften gesünder sind als andere. Sein Ergebnis ist überraschend: Er fand heraus, dass das, was die gesündesten Gesellschaften gemeinsam haben, nicht ist, dass sie mehr haben - mehr Einkommen, mehr Bildung oder mehr Wohlstand - sondern dass das, was sie haben, nur gerechter verteilt ist.


In der Tat stellte sich heraus, dass sich nicht nur Krankheit, sondern eine ganze Reihe von sozialen Problemen, von psychischen Erkrankungen bis hin zu Drogenkonsum, in ungleichen Gesellschaften verschlimmern. In seinem neuesten Buch "The Spirit Level: Why More Equal Societies Almost Always Do Better", dass er zusammen mit Kate Pickett, geschrieben hat, erläutert er detailliert die schädlichen Auswirkungen der Ungleichheit auf eine Gesellschaft: erodierendes Vertrauen, zunehmende Angst und Krankheit, die Ermutigung zu zügellosem Konsum.

Die gute Nachricht ist, dass eine erhöhte Gleichheit den gegenteiligen Effekt hat: Die Statistiken zeigen, dass Gemeinden ohne die große Kluft zwischen Arm und Reich widerstandsfähiger sind und ihre Mitglieder ein längeres, glücklicheres Leben führen.

Auszüge aus einem Interview, das Brooke Jarvis vom YES!-Magzine mit Richard Wilkinson geführt hat.


Brooke: Sie haben die Auswirkungen der Ungleichheit auf die Gesundheit sehr lange untersucht. Hat eines ihrer bisherigen Ergebnisse sie überrascht?

Richard: Oh, so ziemlich alle. In der Tat ist Auswirkung auf die Gesundheit noch schwächer als für viele andere Probleme, wir haben uns die Lebenserwartung, Geisteskrankheiten, Teenager-Geburtenraten, Gewalt, den Prozentsatz der Bevölkerung im Gefängnis und den Drogenkonsum angesehen. Sie alle waren in ungleichen Ländern nicht nur ein wenig schlechter, sondern viel schlimmer. Wenn ich gewusst hätte, wie stark die Verbindung ist, hätte ich sie mir schon ein Jahrzehnt früher angesehen. Tatsächlich bin ich immer noch überrascht, dass niemand sich das schon früher angesehen hat.

Nichts von dem, was wir getan haben, ist kompliziert. Epidemiologen und Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, machen diese Arbeit schon seit einiger Zeit, sie beobachten nicht nur die relative Armut, sondern alle Einkommenslevel, zum Beispiel innerhalb eines amerikanischen Staates.

Wenn sie also zum Beispiel die Beziehung zwischen Einkommen und Sterberaten kennen, sollten Sie eigentlich in der Lage sein, vorherzusagen, wie die Sterblichkeitsrate eines Staates aussehen wird. Tatsächlich aber produziert das keine gute Vorhersage. Was zählt, sind nicht die Einkommen selbst, sondern wie ungleich sie sind. In einem ungleichen Staat erzeugt das gleiche Einkommen eine höhere Sterblichkeitsrate.

In der Tat sind diese Probleme in ungleichen Gesellschaften nicht nur zehn oder zwanzig Prozent höher. Es gibt vielleicht achtmal so viele Teenager-Geburten pro Kopf, das Zehnfache an Morden, dreimal die Rate der psychischen Erkrankungen. Riesige Unterschiede. Wenn die soziale Mobilität eine perfekte Sortieranlage wäre und jeder würde nach Fähigkeiten sortiert, sollte dieser Zusammenhang die Anzahl der Probleme in der Gesellschaft nicht größer machen. Es sollte nichts am Gesamtergebnis des IQs einer Bevölkerung ändern, sondern nur die soziale Verteilung des IQs. Wir wissen aber aus den Ergebnissen, dass es die Ungleichheit selbst ist, welche die Probleme schafft. Wir machen keinen großen Sprung, indem wir sagen, dass dies kausal ist. Wir zeigen, so glaube ich, dass es fast unmöglich ist, eine andere schlüssige Erklärung zu finden.

 

 

Brooke: Vielleicht ist diese Verbindung nicht erforscht worden, weil wir es so gewohnt sind, diese Probleme in Zusammenhang mit Armut zu denken. Herauszufinden, dass sie nicht an das Niveau des Einkommens gebunden sind, sondern an die Schichtung der Einkommen, ist ein ziemlich unerwartetes Ergebnis.

Richard: Wir zeigen, dass sich diese Probleme nicht dadurch ändern, dass die reichen Länder immer noch reicher werden. Es gibt Probleme, die wir als Probleme der Armut denken, weil sie in den ärmsten Gebieten der Gesellschaft auftauchen, aber ein Land wie die USA kann doppelt so reich sein wie Griechenland, Portugal oder Israel oder - die ärmeren der reichen, entwickelten Länder, die wir uns angesehen haben - und die Probleme sind nicht besser, obwohl die Amerikaner in der Lage sind, doppelt so viel von so ziemlich allem kaufen, wie Menschen in den ärmeren entwickelten Gesellschaften. Das macht keinen Unterschied, es sind nur die Lücken zwischen uns, die eine Rolle spielen. Und das ist wirklich eine ziemlich aufrüttelnde Erkenntnis über uns selbst und die Auswirkungen der sozialen Struktur zwischen uns.

 

Brooke: Wie ändert das Begreifen dieser Probleme in Zusammenhang mit Ungleichheit anstatt von Armut die Art, wie wir uns mit ihnen auseinandersetzen?

Richard: Ich glaube die Leute sind besorgt über das Ausmaß der sozialen Probleme in unserer Gesellschaft, sie fühlen, dass, obwohl wir materiell sehr erfolgreich sind, eine Menge Sachen schief laufen, und wir wissen nicht warum. Die Medien sind voll von diesen sozialen Problemen und sie tadeln Eltern oder Lehrer oder das Fehlen der Religion oder was auch immer. Es macht einen wichtigen Unterschied für die Menschen, eine Analyse zu haben, die wirklich passt, nicht nur in akademischer Hinsicht, sondern die auch zur Intuition passt, welche die Menschen gehabt haben. Die Menschen wissen seit Jahrhunderten intuitiv, dass Ungleichheit entzweit und sozial zersetzend ist. In gewisser Weise ist das alles, was uns die Daten zeigen. Sie zeigen, dass diese Intuition viel wahrer ist, als jeder von uns erwartet hätte.


Brooke: Als ich zum ersten Mal von Ihrer Arbeit hörte, erwartete ich, das Buch würde sich mit den materiellen Auswirkungen der Ungleichheit befassen. Aber Ihr Schwerpunkt ist anders.

Richard: Ja. Es geht um die psychosozialen Auswirkungen der Ungleichheit, um die Auswirkungen des Lebens mit Angst und Gefühlen der Überlegenheit oder Unterlegenheit. Es ist nicht die minderwertige Unterkunft, die ihnen die Herzkrankheiten einbringt, es ist der Stress, die Hoffnungslosigkeit, die Angst, die Depression, die sie fühlen. Die psychosozialen Folgen der Ungleichheit beeinträchtigen die Qualität der menschlichen Beziehungen. Weil wir soziale Wesen sind, sind es das soziale Umfeld und die sozialen Beziehungen, welche die wichtigsten Stressoren sind. Für Einzelpersonen sind es natürlich große Stressfaktoren, wenn sie ihr Haus verlieren, oder stark verschuldet sind. Aber in der Bevölkerung als Ganzes scheint es, als ob die sozialen Gesichtspunkte die größten Stressfaktoren sind, weil so viele Menschen um ihnen ausgesetzt sind.

 

Brooke: Welche psychischen Auswirkungen hat das Leben in einer ungleichen Gesellschaft für jene Menschen, die an der Spitze der Skala stehen?

Richard: Status-Wettbewerb führt zu einer Reihe von Problemen. Wir sind alle sehr empfindlich, wie wir beurteilt werden. Die Leute geben Tausende von Pfund für eine Handtasche mit den richtigen Etiketten aus, um Aussagen über sich selbst zu machen. In ungleichen Ländern neigen die Menschen eher dazu, sich zu verschulden. Sie sparen weniger von ihrem Einkommen und geben mehr Geld aus. Sie arbeiten viel mehr Stunden - die ungleichsten Länder arbeiten etwa neun Wochen länger in einem Jahr.

Wenn Sie in einer ungleichen Gesellschaft aufwachsen, ist Ihre Erfahrung der menschlichen Beziehungen anders. Ihre Idee der menschlichen Natur ändert sich. Wenn Sie in einer Konsumgesellschaft aufwachsen, denkt man an den Menschen als eigennütziges Wesen. In der Tat ist der Konsumismus so mächtig, weil wir so überaus soziale sind. Es ist nicht so, dass wir tatsächlich ein überwältigendes Bedürfnis danach hätten, Eigentum anhäufen, es geht darum, dass wir besorgt sind, wie wir gesehen werden. Deshalb missverstehen wir den Konsumismus. Es ist nicht das materielle Eigeninteresse, es geht darum, dass wir so empfindlich sind. Wir erleben uns selbst durch des jeweils anderen Augen und das ist der Grund für die Etiketten und die Kleider und die Autos.

 

Brooke: Was ist der Effekt der Ungleichheit auf die Art, wie wir unsere Gemeinschaften sehen - und wie beeinflusst diese Wahrnehmung, wie sie funktionieren?

Richard: Ungleichheit beeinträchtigt unsere Fähigkeit zu vertrauen und unser Gefühl, dass wir Teil einer Gemeinschaft sind. In gewisser Weise ist, dass die grundlegende Verbindung zwischen der Ungleichheit und den meisten ihrer Folgen: die Beschädigung, die es sozialen Beziehungen zufügt. Zum Beispiel fühlen zwei Drittel der Bevölkerung in gerechteren Staaten, dass sie Anderen generell vertrauen können, während dies in ungerechteren Ländern oder Staaten, bis auf 15 Prozent bzw. 25 Prozent fällt.

Die Ungleichheit ist ein Spiegelbild, wie stark Hierarchien sind, wie sehr wir teilen oder nicht. Es zeigt uns, welchen Teil unseres Potenzials wir entwickeln: Was für ein Spiel spiele ich? Schlage ich mich alleine durch? Oder möchte ich, dass die Leute mir vertrauen mir und mit mir zusammenarbeiten? Hängt mein Überleben von guten Beziehungen ab? Bist du mein Feind? Wirst du mich bestehlen? Muss ich festhalten, was ich habe, es verteidigen? Oder können wir teilen? Der Mensch kann beides tun. Es ist sehr interessant, dass wir messen können, wie ungleich Gesellschaften sind und wie uns das bestimmte Arten des Verhaltens entlockt.


quelle: sein.de