Was ist denn eigentlich die Krise?

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Große Wahrheiten sind einfach

Bei den Demonstranten von Kairo bis zu denen in Manhattan herrscht überall dumpfer Groll, Wut, berechtigter Zorn über die realen und bedrohlichen Auswirkungen des weltweiten Systems „Finanzwirtschaft“. Aber leider wird bisher nur die Bekämpfung dieser Auswirkungen diskutiert. Was fehlt, ist eine klare Analyse der Ursachen, und die muss rational sein, für jeden verständlich, keine ideologische Dunstwolke, kein Streit zwischen einander widersprechenden Geldtheoretikern. Ein klarer Blick auf die vorhandenen Tatsachen muss genügen. Ein Gastbeitrag von Gerd P. Werner

Beim Schwarzen Freitag 1929 verquickten sich die beiden alten Problemfelder der westlichen Zivilisation: der Handel mit Geld und der Handel mit Grundstücken, oder die Finanzwirtschaft und die Grundstückshypotheken. Kirche und Islam hatten die Finanzwirtschaft sehr frühzeitig als Unheil bringend erkannt und verboten, in der damals verständlichen Form des Zinsverbots. Christen und Moslems unterliefen dieses Verbot. Die Finanzwirtschaft ist heute nicht ein kleiner Zweig der Wirtschaft, sondern sie ist vielhundertfach größer als die Realwirtschaft. Jedem Zahlvorgang in der Realwirtschaft steht ein Produkt oder eine Dienstleistung gegenüber, in der Finanzwirtschaft nicht, es ist reines Zocken, Casinokapitalismus, ohne Nutzen für die Gesellschaft – aber 1929 wie auch diesmal vor drei Jahren, platzten in den USA gigantische Spekulationsblasen aus der Verquickung von Spekulation mit Geld und mit Grundstücken, der Steuerzahler musste mit unvorstellbar großen Summen Pleite-Banken sanieren.



Trotzdem ist die Krise nicht vorbei, ist noch nicht einmal auf dem Höhepunkt. Geld ist keine Handelsware; ist nur Zahlungsmittel, Gegenwert für Güter, die einst ohne Geld-Anwendung nur per Tauschhandel ihren Weg fanden.

Grundstücke sind keine Handelsware, noch kein Grundstück wurde jemals hergestellt. Grundstücke gehören in den Bereich des Rechtlichen, nicht des Wirtschaftlichen.

Jeder Neu-Ankömmling auf der Erde stellt fest, dass die Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft für jeden Menschen vorhanden und notwendig sind. Die Atemluft steht jedem unangefochten zu – aber Grund und Boden ist bereits verteilt, jeder Quadratmeter steht im Grundbuch eingetragen mit einem Eigentümer, der den höchsten Schutz des Grundgesetzes genießt. Das verletzt die Würde jedes neuen Erdenbürgers.

Unser Umgang mit Grund und Boden ist aber nicht nur ein Verstoß gegen das Grundgesetz, er ist auch Ursache für regelmäßig wiederholte Katastrophen der Wirtschaft. Fehlende Einsicht in diese Zusammenhänge schafft immer wieder neue Katastrophen, und die sind bei jeder Wiederholung weit größer als die vorhergehende war.

In einer wohnungspolitischen Debatte zur Neuen Heimat im Bundestag am 14.3.1986 habe ich ganz vorsichtig formuliert: „Wohnen ist ein Grundbedürfnis, das aus unserer Sicht eher als Grundrecht gesehen und auch als Grundrecht organisiert werden muss und das daher nicht so wie andere Konsumbedürfnisse einfach dem so genannten Markt überlassen werden kann.“ Ich erntete für diesen Gedanken Ablehnung bei anderen Mitgliedern meines Bundestags Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, und auch meine lieben Grünen interessierte dies Thema nicht. (Nachlesbar auf Bundestagsseiten im Internet, Seite 15745 unten rechts)

Wie groß war die Katastrophe in der Folge des Schwarzen Freitag 1929? Bankenpleiten, Firmenpleiten, Vertrauensverlust in Banken und Politik, Arbeitslosigkeit, Inflation, Zulauf zu politischen Extremisten, Deutschland wurde von den Nazis geschluckt, die anschließend einen Weltkrieg mit 80 Millionen Toten verursachten, die bisher größte Menschheitskatastrophe.

Wie groß werden die Folgen der jetzigen Katastrophe sein? Staatspleiten nur in Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien, oder steigern sich die seit Jahren allwöchentlich erscheinenden Katastrophenmeldungen noch viel weiter?

Die Menschen auf dieser Erde, welche nicht unmittelbar zum Bereich der westlichen Zivilisation gehören, also nicht in Europa oder englischsprachigen Ländern (zunehmend auch die im Westen unter der Armutsgrenze Lebenden), die sehen im westlichen Lebensstil und im westlichen Bankwesen die Ursache für die Wirtschaftskatastrophe, und leider kann der Westen diese Anschuldigungen nicht entkräften. Entsteht da nicht zwangsläufig eine Allianz gegen „den Westen“? Wird insbesondere der Islam die wachsende Wut auf diesen Westen im Zaum halten können oder wollen? Sind heutige islamistische Terroristen nur erste Symptome einer drohenden gewaltigen Konfrontation, größer als der zweite Weltkrieg?

Zahlen im neuen Unicef-Jahresbericht 2011 belegen, dass 90 % der Jugend auf unserer Erde sich in ähnlicher Lage befinden wie die jungen Ägypter vor ihrem Aufruhr: kaum Chancen für Teilhabe an Bildung, Arbeit, politischer Mitwirkung. Das Aufbegehren dieser Jugend der Welt wird mit Sicherheit die treibende politische Kraft der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein. Die restlichen zehn Prozent – also unsere Jugend im „Westen“ – haben die hohe Verantwortung, die vom westlichen Lebensstil und von der westlichen Finanzwirtschaft gelegten Ursachen der jetzigen und künftiger Weltwirtschaftskrisen rasch zu beseitigen, bevor der Zorn der Weltjugend sich gegen uns richtet. Viel Zeit bleibt da nicht!

Sicher ist erhebliche politische Kreativität gefragt, um vom jetzigen Zustand des Handels und des Spekulierens mit Grundstücken zum gewünschten Zustand der Organisation von Grund und Boden als Grundrecht zu kommen. Aber zum einen gab es schon und gibt es noch heute andere Grundeigentumsverhältnisse, beispielsweise die Allmende, zum anderen kann man sich zur vorsichtigen Umwandlung des Grundeigentums in grundrechtsartige Formen des Umgangs Anleihen vorstellen an den rechtlichen Regeln des künstlerischen Urheberrechts, wo nach 6 oder 7 Jahrzehnten die Erben alles Recht an Kunstwerken freigeben müssen für alle.

Auch zu einem anderen Umgang mit Geld müssen wir kommen. Nicht schlecht ist das Beispiel islamischer Banken, bei denen man nicht Kredit gegen Zinsen bekommt, sondern Beteiligungen, das Risiko geht also anteilig auch auf die Bank über.

Wichtig ist, zu erkennen, dass gerade die Verknüpfung von Handel mit Geld und Handel mit Grund und Boden immer wieder wirtschaftliche Katastrophen hervorbringen muss! Das wird man nur erkennen können, wenn man die Krisen von 1929 und heute in ihrer gleichartigen Struktur und Folgerichtigkeit sieht, und indem man die angeblichen Experten als befangene Insider mit einer gewissen Betriebsblindheit einstuft.

Die auf Geld und Grundstücken errichteten Finanz-“Gebäude“ – 1929 wie auch jetzt – stellen auf Sand gebaute Häuser dar; sie müssen zwangsläufig zusammenbrechen, da ihre Grundlagen buchstäblich Lügen sind: es sind die Lügen, Geld und Grundstücke seien normale Handelswaren – was sie eben nicht sind. Die Redewendung „auf Sand gebaut“, oder gleichartig „unrecht Gut gedeihet nicht“ – diese umgangssprachlich recht bekannten Formulierungen sagen mehr aus über die Logik unserer Finanzkrisen als die Experten-Gutachten. Und die hilflosen Forderungen nach mehr staatlicher Bankenaufsicht und
Begrenzung der Bonus-Zahlungen sind für die Katz, treffen gar nicht das Thema.

Brauchen wir eine Finanzwirtschaft? Ja, sicher! Und wofür? Zum Beispiel für Sparmöglichkeiten zur Alterssicherung und andere nötige Versicherungen, und Kredite für nötige Investitionen, gesetzliche Versicherungen für Renten und Krankheit und Arbeitslosigkeit, und noch einige andere nötige Dinge. Eine solche Finanzwirtschaft, die auf dem realen Bedarf beruht, hätte ein Finanz-Volumen in der Größe eines Bruchteils der Realwirtschaft. Stattdessen ist die Finanzwirtschaft heute vielhundertfach größer als die
Realwirtschaft. Und warum? Weil wir alle uns von den daran interessierten Menschen haben weismachen lassen, wir bräuchten ein gigantisches Wettbüro, genannt Finanzwirtschaft.

Die Geldmenge dieses Wettbüros ist bereits zehnmal so groß wie das gesamte Bruttosozialprodukt der Erde. Und wir alle tun immer noch so, als wäre das nur eine Spielwiese für Reiche, in Wahrheit produziert es ständig kleinere und riesige Finanzkrisen, die sich fast sofort direkt auf die Realwirtschaft auswirken.

Gewinne sind längst entnommen, Nutznießer bleiben anonym, sind nicht auffindbar, wenn die Steuerzahler die Verluste ausgleichen müssen. Die Experten durchschauen das immer noch nicht, aber die Bürger beginnen allmählich mit dem Durchblick, Proteste von Ägypten, Madrid, Israel, New York usw. beruhen oft noch nicht auf gründlicher Analyse, eher auf Ahnung und Gespür, aber das politische Bewußtsein wächst und wächst. Das alles kann man natürlich auch als den ganz normalen Kapitalismus bezeichnen, aber das führt jetzt nicht weiter.

Bei den heutigen Strukturen in der westlichen Welt zahlen bisher immer die Steuerzahler, wie schon gehabt, bei Zocker-Banken-Pleiten in den plötzlichen und angeblich völlig unvorhersehbaren Finanzkrisen, bei Atommüll-Endlagerung, bei staatlichen Mietzuschüssen wegen überhöhter Mieten („Bodenrente“ durch die Steuerzahler).

Damit das nicht so bleibt, müssen neue Gedanken in die Köpfe – solche, wie die hier dargestellten und ähnliche, etwa Volksabstimmungen nach dem Konzept von „Mehr Demokratie e.V.“ und mehr Brüderlichkeit in reichen Industrieländern durch bedingungsloses Grundeinkommen nach dem Konzept von Götz Werner – beides leicht auffindbar im Internet und bei Facebook.

Gerd P. Werner war von 1985-1987 Mitglied des Deutschen Bundestags  in der ersten Fraktion der GRÜNEN

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