Lebst du in einer konstruktiven oder destruktiven Symbiose – mit dir und anderen?

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Gabriele Rudolph·Freitag, 20. April 2018

Erst einmal: Was ist das denn nun genau, eine Symbiose? Und inwiefern kann sie konstruktiv oder destruktiv sein?

Das Wort „Symbiose“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Zusammenleben“. Es wurde ursprünglich vor allem in der Biologie für eine besonders enge Beziehung zweier Lebewesen verwandt. Dabei ist elementar, dass diese Beziehung zu einem gegenseitigen Nutzen eingegangen wurde, z. B. zwischen Darmbakterien, die ihrem Wirt ermöglichen, zellulosereiche Nahrung abzubauen und damit verwertbar zu machen und dafür vom seinem Immunsystem nicht vernichtet werden.

Später wurde der Begriff auch in die Psychotherapie übernommen. So kann man das Verhältnis zwischen einem Baby und seiner Mutter als Symbiose bezeichnen, wobei der Nutzen der Mutter in ihrer Freude daran besteht, dieses kleine Wesen zu bemuttern, zu versorgen, zu beschützen, mit ihm zu spielen, zu lachen und es heranwachsen zu sehen.

In anderen Worten: Sein bloßes Dasein ist einer psychisch gesunden Mutter eine große Freude. Und die Liebe und Fürsorge der Mutter ist für das Kind absolut wesentlich.

Eine konstruktive Symbiose ist also für alle Beteiligten nutzbringend, entwicklungsfördernd und zutiefst befriedigend. Geben und Nehmen sind ausgeglichen und alle Beteiligten werden als Das gewertschätzt, was sie sind, brauchen und geben können.

So können in einer gesunden Partnerschaft symbiotische Bedürfnisse nach Liebe, Intimität, körperlicher, emotionaler, geistiger, spiritueller und praktischer Zuwendung ebenso offen ausgedrückt und befriedigt werden wie der Wunsch nach Autonomie, Rückzug oder Veränderung. Man könnte hier auch von gesundem Egoismus und Altruismus sprechen, der in einer konstruktiven Symbiose zusammenfällt.

Beispielsweise ermöglicht ein gesunder Staat seinen Bürgern ein ebenso großes Maß an Freiheit wie an Geborgenheit, wofür diese dann wiederum gerne bereit sind, ihren Beitrag für das Wohlergehen aller zu leisten. Denn ein Mensch, dessen symbiotischen wie autonomen Bedürfnisse weitestgehend durch die Gemeinschaft erfüllt werden, freut sich daran, dass diese auch von ihm profitiert.

In einer konstruktiven und damit gesunden Symbiose hat auch Wut und Angst ihren Raum. Sie sorgen dafür, dass Unstimmigkeiten geklärt, unbefriedigte Bedürfnisse ausgedrückt, Übergriffe aufgedeckt und beendet werden.

Und wenn eine Partner- oder Freundschaft, ein Verein, eine Gemeinschaft, ein Staat oder eine Staatengemeinschaft ihre Funktion, d. h. die Bedürfnisse der daran Beteiligten, erfüllt hat bzw. nicht mehr erfüllt, löst sie sich auf.

In anderen Worten: Die Regeln in einer konstruktiven Symbiose sind flexibel, menschlich, entsprechend den gegenwärtigen Bedürfnissen und Situationen. Die Kommunikation ist direkt, klar, spezifisch und ehrlich. Macht wird nicht missbraucht, sondern schützend eingesetzt. Sie ist der unmittelbare Ausdruck von Klarheit, gesunder Menschenliebe und echtem Mitgefühl. Denn Liebe sieht das Gegenüber so, wie er oder sie ist, mit seinen Stärken und Schwächen. Sie hat Freude an sich selbst wie am anderen und drückt diese ebenso ehrlich und offen aus wie Wut, Schmerz, Trauer, Liebe, Angst oder andere Gefühle.

Manipulation, Gewalt, Zwang, Demütigung und Verschleierung sind in einer gesunden Symbiose nicht notwendig. So gibt es auch keine Tabus, um Schmerzen, Familien-, Staats- oder andere Geheimnisse aufrechtzuerhalten. Probleme, Tabus und Unstimmigkeiten können offen angesprochen werden. Sie sind die Einladung, gemeinsam hinzusehen, Unaufgeräumtes aufzuräumen und/oder neue Lösungen zu suchen.

Tabus dienen also nur dazu, (Scham)Grenzen zu respektieren, nicht Geheimnisse aufrechtzuerhalten.

In anderen Worten: Keiner wird bloß- oder an den Pranger gestellt, gedemütigt oder vergewaltigt. Aber es wird auch keiner in Watte gepackt, aufs Podest gehoben, unnötig gehätschelt bzw. vor Problemen oder Konflikten geschützt.

Klarheit und Bewusstheit spielen dabei eine große Rolle.

Diese Art von konstruktiver Symbiose fördert ganz natürlich ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, Verbundenheit, Liebe und Freiheit und hat zudem etwas sehr Ernüchterndes, wohingegen eine destruktive Symbiose all das nicht nur verhindert, sondern richtiggehend unterdrückt.

Konstruktive Symbiosen fördern ein gesundes Wachstum und geben Raum für eigene Entscheidungen, Fehler, neue Wege, Veränderung, Wahrheit. Sie respektieren die gegenseitigen Abhängigkeiten, individuellen Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle, Stärken und Schwächen.

Jeder ist etwas Besonderes und doch niemand Besonderes.

Eine destruktive Symbiose hingegen kreiert ungesunde Abhängigkeiten, Tabus und künstliche Unterschiede, ja, versucht sie mithilfe von Druck, Manipulation, Zwang und/oder Gewalt aufrechtzuerhalten. Sie beruht auf dem Missbrauch von Macht.

Franz Ruppert beschreibt sie mittels zweier herausragender Aspekte:

* „Du sollst so sein, wie ich dich brauche, nicht so wie du bist.“ (Dominanz, Unterdrückung) sowie

* „Ich bin so, wie du mich brauchst bzw. haben willst.“ (Unterwerfung, Überanpassung, Selbstaufgabe bis hin zum Selbstmord).

Es gibt also einen Stärkeren und einen Schwächeren, wobei die Bedürfnisse und Grenzen des Schwächeren kaum bis gar nicht berücksichtigt werden. Er dient vor allem den Bedürfnissen des Stärkeren. Dadurch sind unterschwellige Aggressionen in einer destruktiven Symbiose normal. Sie werden durch Druck, Drohungen bis hin zu Gewalt unterdrückt.

Wahrheit, Ehrlichkeit, Einfachheit und Liebe haben in destruktiven Symbiosen keinen Raum. Im Gegenteil: Der Stärkere nimmt nicht nur in Kauf, dass der Schwächere durch sein Verhalten geschädigt, missbraucht und traumatisiert wird, sondern – im extremsten Fall – sogar stirbt. Der Mächtigere wird glorifiziert und auf den Sockel gestellt, wohingegen der Schwächere gedemütigt und klein gehalten wird.

Gleichberechtigung und das Sehen, dass alles Dasselbe ist, haben hier keinen Raum.

So sind Tabus und Manipulation in einer destruktiven Symbiose Alltag. Vor allem die wahren Absichten der Stärkeren, die häufig so tun, als sei ihr Verhalten im Interesse aller, werden bewusst verschleiert. Und die Schwächeren bringen für die Unwahrheiten immer wieder Verständnis auf bzw. finden die erstaunlichsten Entschuldigungen und Beschönigungen für die Taten ihrer Unterdrücker - all dies nur um sich nicht schuldig, voller Scham, hilflos etc. zu fühlen. 

Die Erfahrung, der Schmerz und das Gefühl, Opfer zu sein, wird verdrängt zugunsten von Opferhaltungen bzw. einer Opferidentität als Überlebensstrategie.

Der Sinn einer destruktiven Symbiose ist also das Aufrechterhalten alter traumatischer Strukturen sowie des durch ein Trauma entstandenen, sich zutiefst abgetrennt fühlenden Ichs, und damit das Vermeiden von Bewusstheit, Verletzlichkeit, Schmerz und all der Gefühle und echten Bedürfnisse, die erschienen, würde man es ihnen gestatten.

Die Folge ist eine kontinuierliche (Re-)Traumatisierung über viele Generationen hinweg - bis sie durchbrochen wird - von dir?

(aus: “Wie geht (Selbst)Liebe wirklich?” von Gabriele Rudolph, mehr dazu unter http://www.einfachnursein.de)