Kampf, Protest und Widerstand: Notwendigkeit oder altes Bewusstsein?

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Quelle: Sein.de
So langsam geht es rund. Die sich verschärfende wirtschaftliche Lage, die zunehmende Kluft zwischen Politik und Bevölkerung und eine grundlegende Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen treibt weltweit immer mehr Menschen auf die Straße. Ist es Zeit für Widerstand und Revolution? Oder ist der "Kampf" ein altes Konzept und vielleicht sogar grundsätzlich kontraproduktiv?


Soziale Unruhe
Die Zeit, in der die Bevölkerung den politischen Wahnsinn schlaftrunken und treudumm hinnahm, ist offenbar vorbei. Von Generalstreiks in Frankreich und Straßenschlachten in Griechenland, über Bahnhofs-Proteste und Castor-Demos in Deutschland, Protesten in Portugal, Italien und Irland und Angriffen auf den Prinzen in England - in ganz Europa steigt die soziale Temperatur merklich. Wir verzeichnen in Europa die größte Streikwelle seit Jahrzehnten. Zumindest im Internet brodelt es nun aktuell rund ums Thema Wikileaks und die "jetzt reicht's aber"- Grenze rückt in fühlbare Nähe.



1000 Fronten
Es gibt genug, worüber man wütend sein darf. Wohl jeder hat im Laufe der eigenen Geschichte diese tiefe Wut gespürt, Wut über verhungernde Kinder, getötete Tiere, zerstörte Wälder, skrupellose Konzerne, sinnlose Kriege, dreiste Politikerlügen. Ich selbst hatte in meinen jüngeren Jahren Phasen, in denen es mir schien, als seien Mord und Bomben in einigen Fällen doch die einzig adäquate Antwort auf so manche Ungerechtigkeit.

Neben Wut sind Resignation, Angst und Verzweiflung weitere beliebte Optionen. Die Realisation, dass man einer verschlingenden Übermacht, einem Moloch von System und einer Verschwörung von Geld, Macht und Gewalt gegenübersteht, die unbesiegbar scheint, kann erschrecken und entmutigen. "Man kann ja doch nichts tun"?


Was ist die richtige Antwort?
Was macht all das mit mir? Wie antworte ich darauf? Schließe ich meine Augen wieder? Renne ich hinaus auf die Straße und kämpfe? Machen Demonstrationen und Petitionen überhaupt noch Sinn? Müssen wir radikaler werden? Gibt es überhaupt eine "richtige" Antwort?

Gerade für einen spirituell orientierten Menschen schwierige Fragen. Und das auf mehreren Ebenen. Zum einen könnte die innere Wut im Widerspruch zur pazifistischen und all-liebenden Grundhaltung stehen. Zum anderen übt man sich doch nun so leidenschaftlich in Akzeptanz. Andererseits: Gibt es nicht auch den spirituellen Krieger, der Unwahrheit und falsche Konzepte benennt und zerstört, hinwegfegt in heiligem Zorn?

Für mich ist eine klare Position noch immer nicht ganz möglich. Ich selbst habe jeden Glauben an die Politik verloren. Ich habe auch den Glauben an Proteste verloren, zumindest fast. Ich glaube nicht, dass Proteste oder Kämpfe jemals etwas ändern werden. Aber ich glaube, sie können Bewusstsein schaffen, weil sie Emotionen auslösen, Dinge ins Rampenlicht stellen, Themen aus dem Schweigen ins Gespräch befördern. Was wäre denn, wenn der Castor jedes Jahr unbehelligt nach Gorleben rollen würde? Und was wäre, wenn die Bevölkerung öfter mal in den Generalstreik gehen würde, um die Politik am Zügel zu halten? Wegdenken möchte ich mir die Kämpfer nicht, sie haben meine tiefe Sympathie.


Kampf oder Alternative?
Trotzdem: Ich kann und mag mich mit Politik kaum mehr befassen. Es ermüdet mich, es fühlt sich so existenziell sinnlos an. Und eine meine tiefsten Überzeugungen in Bezug auf Gesellschaft hat Buckminster Fuller so zusammengefasst:

"Du veränderst Dinge nicht, indem Du die bestehende Realität bekämpfst. Um etwas zu verändern, musst Du ein neues Modell erschaffen, welches das bestehende Modell überflüssig macht."

Ähnlich schrieb Sein-Leser Victor Calma kürzlich auf Facebook in einem Kommentar zu einem Artikel über Wikileaks:

"Die Welt ändert sich wohl kaum, indem man die Waffen derer verwendet, die einen angreifen oder einsperren. Der Punkt, um den es geht, ist eine Alternative vorzuleben. Da sind KEINE FEINDE. Die Welt ist die Welt der Möglichkeiten, und es ist genug Platz für alternatives Leben - auch ohne den Moloch angreifen zu müssen. Der Moloch frisst sich selbst. Spätestens, wenn genug Menschen bereit sind, aus sich heraus den Konsumwahn zu beenden. Vorbilder sind da eher Kreative, die Leben, was sich sonst niemand traut - statt Kämpfer. "Gewaltfreier Widerstand" oder Kampf ohne Gewalt ist ein Widerspruch in sich. "Wider" ist "gegen" und Gegnerschaft erzeugt... Gegnerschaft. Der beste Schwertkämpfer ist der, der sein Schwert nicht nutzt."

Es ist manchmal nötig, "nein" zu sagen, man darf dagegen sein, wissen, was man nicht will, Grenzen ziehen. Aber es reicht nicht und hilft eben nicht, nur dagegen zu sein. Ein Kampf gegen etwas wird selten die Energie für eine wirkliche Transformation generieren können. Wirkliche Kraft kommt aus Freude, Begeisterung und Liebe für eine positive Vision, nicht aus einer wütenden, angstvollen oder verzweifelten Reaktion auf den Status Quo.


Eine energetische Perspektive
Ohne allzu spirituell werden zu wollen: Energetisch gesehen verläuft die gesellschaftliche Kontrolle in einem bestimmten emotionalen und schwingungsmäßigen Frequenzband: Angst, Wut, Kampf, Urteil, Entweder-Oder, Verzweiflung, Resignation, Apathie ... Nicht selten liegt der angeblich revolutionäre Widerstand in exakt derselben Frequenz, wie jeder Besucher linker Demos und jeder Leser von Verschwörungstheorien leicht bestätigen kann.

Ist eine Lösung auf diese Weise überhaupt vorstellbar? Ist das nicht vielleicht sogar das, wo man uns haben will? Im Kampf gegeneinander, in immer mehr Wut, Mistrauen, Angst und Gewalt? Ist politischer Widerstand vielleicht gar eine Falle?

Wäre der wahre Widerstand nicht, seine Energie lieber darauf zu verwenden Alternativen aufzubauen? Geht es nicht vielleicht auch darum, dass wir uns aus diesen niederen Frequenzen befreien und wieder zu Vertrauen, Liebe, Kooperation und Freude finden - weil das die einzig möglichen Grundlagen für eine wirklich nachhaltige Alternative sind?

Oder ist das alles naive Esoteriker-Denke? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen?
Diese Antworten muss sich jeder selbst geben.


Existenzielle Motivation
Ich glaube fest daran, dass nur eine positive Vision die Kraft hat, die Menschheit in ein neues Paradigma zu führen. Eine Bewegung, die vom Herz ausgeht. Und das muss nicht mal eine wirklich scharf umrissene Vision sein. Aber was wir brauchen, ist eine positive existenzielle Motivation.

Zu ähnlichen Schlüssen ist auch Dave Pollard gerade in einem Blogeintrag gekommen. Er hat beobachtet, dass sich Menschen durch die herkömmlichen Argumentationen kaum Motivieren lassen. Diese appellierten entweder an niedere Emotionen (Propaganda), Idealismus (Ideologie) oder Pragmatik, kaum aber wurde jemals versucht, Menschen existenziell zu erreichen. Konkret heißt das: Statt der Frage "Wie besiegen das petrochemische, zentralisierte, menschenverachtende, lieblose, industrialisierte, umweltzerstörerische Paradigma?" lieber die einfache Frage zu stellen "Was bedeutet ein lebenswertes Leben für dich? Was könnten wir alle dafür tun?" Beide Prozesse führen langfristig zu denselben Schlussfolgerungen (grüne Energie, mehr Natur, humanere Arbeit, Konzentration auf Glück etc.), aber eben aus ganz verschiedener Richtung.

Ich sehe diesen Weg auch als den einzig gangbaren Weg zum Konsens - da die existenziellen Wünsche der meisten Menschen sich doch sehr ähnlich zu sein scheinen.


Zum Neuen inspirieren
Auch auf Sein.de haben wir uns Anfang des Jahres entschlossen, immer weniger über die Negativität zu schreiben - obwohl diese ständig zunimmt. Die emotionale Resonanz auf viele unserer positiven Artikel war überwältigend, so dass ich mir mittlerweile sicher bin, dass dies der Weg ist, den ich persönlich gehen will. Nicht gegen das Alte kämpfen, sondern zum Neuen inspirieren. Womöglich aber brauchen wir in diesen Zeiten beides gleichermaßen.

Bedenken sollten wir aber, was Albert Einstein so schön sagte:

"Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind."